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Prozessorientierte Homöopathie

Was ist „Prozessorientierte Homöopathie“?

Lesen Sie dazu den nachfolgenden Beitrag von Andreas Krüger und Hans-Jürgen Achtzehn, Berlin. Vormals ist er in der Zeitschrift „Homöopathische Einblicke 18/1994“ erschienen und hier mit freundlicher Genehmigung der beiden Autoren wiedergegeben.

Auf das Gendering haben wir bewusst verzichtet, um das Original nicht zu verändern.

Prozessorientierte Homöopathie: Ergänzung der Lehre nach Hahnemann

Vorwort

Im folgenden möchten wir einen vorläufigen Einblick in die Begriffs- und Arbeitswelt der prozessorientierten Homöopathie geben. Vorweg ist es uns wichtig klarzustellen, dass es sich hierbei nicht um eine neue Art, sondern um eine Erweiterung der Homöopathie handelt. Die Grundsäulen der Homöopathie – Arzneimittelprüfung, Ähnlichkeitsgesetz und Potenzierung – wie sie Hahnemann lehrt, bleiben in ihren Grundbegriffen unangetastet. Aber wie bei jeder großen Entdeckung oder Lehre, so zeigen sich Wahrheitsgehalt und Lebendigkeit auch in der Homöopathie darin, ob sie sich auf Dauer in der Praxis bewähren kann und ob sie ausbau- und erweiterungsfähig ist. Ein Beispiel hierfür möge die von S. Freud entwickelte Psychoanalyse bieten. Ihr theoretisches Konzept hat sich im Heilungsgeschehen in der täglichen Praxis bewährt, und die von der „Ursprungstheorie“ ausgehenden psychoanalytischen Strömungen, die zum Teil untereinander in einem fruchtbaren Austausch stehen, bekräftigen ihre Lebendigkeit. Der Wahrheitsgehalt der Homöopathie hat sich zweifelsohne bestätigt, aber die Lebendigkeit fiel erst einmal für lange Zeit in einen „Dornröschenschlaf“.

In der Homöopathie gab es nach Hahnemann immer „Meister“, die diese Heilkunst bis zur Vollkommenheit ausgeübt und sie auch an andere weitergegeben haben. Wenn wir uns diese Lehrer ansehen, dann werden wir bemerken, dass ihre Meinung über die Grundsäulen der Homöopathie zwar identisch ist, dass sich aber ihre Arbeitsweise sowohl bei der Findung des Arzneimittels wie bei der Bewertung der „Fallidee“ als auch bei der nachfolgenden Patientenführung sehr voneinander unterschieden. Trotzdem waren sie alle Homöopathen. In der heutigen Zeit kommt es immer mehr zu Schulstreitigkeiten, ähnlich wie in der oben erwähnten Psychoanalyse, bei denen der Disput darum geht, wer denn nun „klassischer“ arbeiten würde. Der – noch undefinierte – Begriff „Klassische Homöopathie“ sollte auf der einen Seite zum Garanten für alte hahnemannianische Qualität werden und drohte auf der anderen Seite die Homöopathie zum Erstarren zu bringen.

Wir möchten an dieser Stelle keine Kritik gegenüber anderen Homöopathen üben , sondern diese neue Begriffsfindung als eine Form der Standortbestimmung verstehen. Ähnliche Standortbestimmungen finden wir in Begriffen wie: „Wissenschaftliche Homöopathie“, „Lebendige Homöopathie“, „Homöopathie aus dem Herzen“, „Universelle Homöopathie“ usw.. Wofür früher der Name des Lehrers gestanden hat, da verbirgt sich heute meist ein homöopathisches Attribut oder eine Schule (Wiener Schule, Boller Schule, Hechtel usw.).

Die Idee der prozessorientierten Homöopathie entwickelte sich aus der praktischen Erfahrung mit Patienten. Grundlage für unsere Arbeit bietet die Boller Schule und das Wirken unseres Lehrers Jürgen Becker. Im folgenden möchten wir unsere Arbeit und unser Verständnis in der Homöopathie als Heilkunde darstellen. Wir wissen, dass die Art der Ausübung der Homöopathie unter den Homöopathen sehr individuelle Züge hat und geben hiermit jedem die Möglichkeit, bei sich nachzuprüfen, ob ihm unsere Sicht- und Arbeitsweise ähnlich ist.


Die Ausgangsbasis

Wir beobachteten, dass nach der Gabe des lege artis gewählten Heilmittels nicht nur eine Reaktion auf der Ebene des vorherrschenden Symptoms auftrat, sondern oft auch eine individuelle Veränderung, ein „Erkenntnisprozess“ einsetzte. Anfänglich drückten sich diese Veränderungen oft in Traumbildern aus, schlugen sich aber bei fortwährender Therapiezeit und wiederholten Arzneimittelgaben in klarer und direkter Form auch im Verhalten und Denken des ganzen Menschen nieder. Im weiteren Verlauf erfuhren wir, dass diese Veränderungen entweder im Sinne eines eigenständigen Prozesses dauerhaft (homöopathischer Gnadenakt) als Heilung blieben oder sich, was leider öfters der Fall war, nicht auf Dauer als ein neuer integrierter Wesenszug im Leben des Patienten niederschlugen. Zu oft verblassten diese gesünderen Eigenschaften wieder im alltäglichen Geschehen, und alte Charakterzüge schlichen sich mehr oder weniger wieder ein.

Am auffälligsten erleben wir das im Bereich der psychischen Symptome. z. B. kann es sein, dass eine Patientin mit einem neurodermitisch aussehenden Hautausschlag zu uns kommt und darüber klagt, dass sie immer missverstanden wird, sich für alle aufopfert, um alle sorgt, dass sich aber um sie in der Not niemand kümmert. Die für sie richtige Arznei könnte z. B. Nat-m. sein. Daraufhin werden die Hautsymptome verschwinden, und sie wird sich für eine lange Zeit sehr wohl fühlen. Doch dann sitzt sie plötzlich wieder vor uns, berichtet über das erneute Aufflackern ihrer Hautsymptome, und wir erfahren bei näherem Nachfragen, dass sich an ihrer emotionalen Unzufriedenheit nichts verändert hat. Natürlich wiederholen wir modifiziert die Arznei – bei erneutem Wiederkehren der gleichen Symptome wechseln wir sie evtl. auch, weil wir glauben, dass wir die Idee des Falles nicht verstanden haben -, aber es will sich kein durchgreifender Erfolg einstellen. Das Wesen der Arznei, das mit dem Wesen der Patientin verbunden war, hat die Symptome vorerst verschwinden lassen, es war aber scheinbar nicht in der Lage, dauerhaft verändernd auf die Patientin einzuwirken. Solche und ähnliche Fälle begegnen uns in der Praxis immer wieder. Der Fehler besteht nicht darin, dass die Arznei nur palliativen Charakter hatte oder dass man die Arznei wechseln müsste, sondern darin, dass wir bei der Wirkung der richtigen Arznei den inneren Widerstand des zu behandelnden Menschen nicht mit berücksichtigen. Mit diesem inneren Widerstand ist nicht der Glaube an eine homöopathische Heilung gemeint, sondern vielmehr die Frage, ob dieser Mensch, so wie er jetzt ist, wirklich gesund werden möchte.

Diese Frage kann niemand so ohne weiteres mit „Ja“ beantworten. Denn jeder Mensch zieht aus seiner Krankheit irgendeinen individuellen Nutzen, dagegen bedeutet Gesundheit unter anderem auch Selbstverantwortung, Verantwortung zu übernehmen, die Schuld nicht mehr auf andere schieben zu können, unbequem zu handeln, Konsequenzen zu ziehen, schmerzhafte Schritte zu unternehmen usw. Da ist es oft viel einfacher, wenn man beschwerdefrei im alten Trott weitermachen könnte. Wenn wir uns mit der prozessorientierten Homöopathie befassen, dann wird es hauptsächlich um das Verständnis von Gesundheit und Krankheit gehen und darum, wie es möglich sein kann, mit dem Wissen um das Wesen der Arznei dem Patienten in seiner Entwicklung eine Hilfestellung bieten zu können, was weit über eine ausschließlich homöopathische Intervention hinausgehen kann.


Das Symptom

Die Begriffe von Gesundheit und Krankheit stehen sich in der naturwissenschaftlichen Lehre polar gegenüber wie Gut und Böse und sind ein Ergebnis dualistischer Weltanschauung. Die Homöopathie in unserem Verständnis fußt auf einer Weltanschauung mit dem alles entscheidenden Vorgang, dass man im Einen das Ganze erlebt, sieht und erkennt. Was wir davon in der Wirklichkeit erleben und womit wir uns gerade in der Homöopathie insbesondere zu beschäftigen haben, ist der Vorgang des Lebendigen, d h. ein Vorgang, der sich durch ein In-Beziehung-Treten auszeichnet. Alles Lebendige steht mit allem in Beziehung, nichts ist für sich allein zu betrachten, es herrscht in jedem Augenblick ein Aufnehmen und Abgeben, ein Fließen und Wandeln. Paul Dahlke sagt dazu: „Wirklichkeit als Ernährung begreifen, heißt nicht eine solipsistische, rein subjektivistische Weltanschauung schaffen, in der nichts herrscht als die Eigensucht des Essers, sondern es heißt Wirklichkeit als ein ständiges Sich-Beziehen begreifen, das überhaupt keinen festen Standpunkt hat, weder im subjektiven noch im objektiven Sinne, sondern für das nichts übrig bleibt als dieser Vorgang des Sich-Beziehens von innen nach außen, ein Subjektiv-Objektives, das durch sein Dasein die Grenze zwischen beiden verwischt, infrage stellt, aber gleichzeitig als wirklich sich dadurch erweist, dass es zwei Seiten hat, eine subjektive und eine „objektive“, und weiter: „Eine Disziplin, mag sie sein was sie will, Heilkunde oder sonst etwas, die auf Weltanschauung verzichtet, d. h. die darauf verzichtet, sich selber im Ganzen wiederzufinden, die verzichtet damit auf das Beste, auf ihre eigene Zukunft.“

Die Betrachtung aus der Sicht des In-Beziehung-Stehens schließt die Begriffe Gesundheit und Krankheit als feststehende, definierbare Größen aus. Außerdem sind beide Begriffe für sich genommen überhaupt nicht erklärbar, es sei denn wir verstehen sie in Bezug zu jemandem. Insofern sollten wir wohl eher von einem gesunden oder kranken Menschen sprechen und nicht von einer Krankheit. Ein Virus ist keine Krankheit, und es ist auch nicht auslösende Ursache, sondern erst dadurch, dass ein Lebewesen mit ihm in Beziehung tritt, kann – und nicht muss – es geschehen, dass sich Symptome entwickeln. Diese Symptome sind wiederum nicht das alleinige Resultat des Virus. Sie sind Ausdruck der Auseinandersetzung. Ein Organismus ist durch seine Bereitschaft, „Anlage“ oder Konstitution mit einem anderen Organismus in Beziehung getreten und befindet sich nun in einem mehr oder weniger lauten Disput. Dieser wiederum ist in Form von Symptomen sichtbar. Die Symptome sind nichts anderes als ein drastischer Versuch zur Herstellung von Kommunikation zwischen unserem inneren Wesen und dem für seine Stimme noch tauben Tagesbewusstsein.

Das, was wir Symptome nennen, sind für die menschlichen Sinnesorgane erkennbare Anzeichen einer Auseinandersetzung dieses Menschen mit einem zuerst noch unbekannten „Problem“. Diese Symptome werden den Homöopathen mithilfe des Ähnlichkeitsgesetzes zum Arzneimittel führen, oder, wie Hahnemann schöner formuliert, sie werden nach dem Heilmittel rufen. Das Entscheidende an der Neuaufnahme des von anderen (Hippokrates, Paracelsus, Hildegard von Bingen) vor Hahnemann schon postulierten Ähnlichkeitsgesetzes war die Tatsache der Entbegrifflichung der Krankheit. Es gibt keine Krankheit mehr, sondern nur noch „die Summe von Symptomen“, was natürlich nicht heißt, das man krankhafte Veränderungen nicht durch schulmedizinische oder naturwissenschaftliche Messgrößen erfassen kann.

Nicht die Tatsache, dass man Ähnliches mit Ähnlichem heilt – diese Methodik taucht auch vereinzelt in der Schulmedizin auf -, sondern die Tatsache, dass es keine Krankheiten, sondern kranke Menschen gibt, macht den großen Unterschied zwischen der Homöopathie und der Schulmedizin aus. Eine Homöopathie, die Masern, Neurodermitis oder Migräne heilt, gibt es nicht, sondern nur eine Homöopathie, die Menschen heilt, die eine Summe von Symptomen zeigen, welche denen eines Krankheitsverlaufes von Masern, Neurodermitis und Migräne, wie sie die Schulmedizin beschreibt, ähnlich sind.

Der Krankheitsname wird damit nicht restlos unsinnig, er dient lediglich als Kommunikationshilfe zwischen verschiedenen „Fakultäten“, ohne dass sich dadurch zwangsläufig eine Therapieform ableitet. Durch diese Entbegrifflichung fällt das weg, was letzten Endes alle herkömmliche Naturwissenschaft ausmacht: das kausale Denken. Kausal zu denken heißt, von einem Ursache-Wirkungsprinzip – von Opfer und Täter, von Gut und Böse, von Schwarz und Weiß – auszugehen. Wir sind mit diesen naturwissenschaftlichen Gedankenmustern aufgewachsen und kennen kaum eine andere Form des Denkens als diese. Aber dass ein kranker Mensch, als Summe der Symptome, der von einer Arznei repräsentierten Summe der Symptome entspricht, mit ihr also insofern in einer „verwandtschaftlichen Be-ziehung“ steht, das hat mit Kausalität nichts zu tun, sondern ist vielmehr Ausdruck eines Erschließens eines neuen Wirklichkeitszusammenhanges und Grundlage einer anderen Wahrnehmungsart.

Wenn man in der Homöopathie nach kausalen Zusammenhängen sucht, etwa derart, dass man z. B. sagt, dass das Virus als Reiz „auslösende Ursache“ einer Krankheit ist, dann fällt man in die wissenschaftliche Begrifflichkeit der Medizin zurück. Wir treten in Beziehung, d. h. hier ist der Mensch und dort das Virus. Der Mensch entscheidet, zuerst unbewusst, reaktiv, seiner „Anlage“ gemäß, über das weitere Zusammenwirken. Später – seinen einzelnen Entwicklungsschritten entsprechend -, kann er mehr zum Handelnden werden. Er kann alte Entscheidungen, die er z. B. aufgrund äußerer Zwänge und ungenügend gereifter Ich-Identität damals hat treffen müssen, korrigieren und neu entscheiden, d. h. es ist ihm nun möglich, bewusster seine Entscheidung zu treffen. Wenn wir von einer Ursache, von einem Ausgang oder von einem Beginn einer Krankengeschichte – niemals einer Krankheit – sprechen, dann nur insofern, als dieser Punkt wie fokussiert die erste und überdeutlich wahrgenommene Erscheinung ist, die nach einem Heilmittel verlangt. „Folge von Durchnässung“ ist nicht Ursache, sie bedeutet nicht, das im naturwissenschaftlichen Sinn hier die Causa einer Krankheit liegt, sondern dass wir ein Symptom haben, dass nach der Erfahrung aller Homöopathen so hochgradig arzneihinweisend ist – dadurch, dass diese Arznei eben diese Eigenschaft besitzt (Schwächung durch Nässe) -, dass wir sie als ähnlichste Arznei erkennen und verordnen. „Ursache“ ist auch nicht der Mensch. Beide, die Nässe und der Mensch, sind zwei völlig unterschiedliche Angelegenheiten, die nun miteinander in Beziehung treten. Der Mensch hat sich von der Nässe beeinflussen lassen und war somit nicht in der Lage – im Gegensatz zu vielen anderen – sich vor ihr zu schützen. Die Antwort auf die Frage, warum er sich hat affizieren lassen, finden wir in der Aufspürung seiner „Anlage“ oder Konstitution. Dieser Faktor ist immens wichtig, denn die Homöopathie arbeitet mit anderen Wahrnehmungsorganen als die herkömmliche Naturwissenschaft, und es ist entscheidend für einen Homöopathen, ob er sich diese andere Wahrnehmungsebene erarbeiten kann, oder ob er im kausalen Denken verhaftet bleibt. Im letzteren Falle, so möchte wir behaupten, wird es ihm nie möglich sein, über eine gewisse Stufe in der Homöopathie hinauszugelangen. Verlassen wir das kausale Denken, dann verlassen wir auch die Frage nach der Schuld und jeglichen Schuldzuweisungen; treten wir ein in ein Beziehungsgeschehen, dann begreifen wir alles als ein in Beziehung stehendes Ganzes!

Um ein Symptom entwickeln zu können, bedarf es auf der einen Seite eines „Problems“ (ein Virus, eine psychische Irritation, eines besonderen Umwelteinflusses usw.) und auf der anderen Seite eine Bereitschaft oder Anlage dazu, sich mit diesem „Problem“ auseinandersetzen zu wollen oder zu müssen. Die entscheidende Frage bei einer Heilung liegt darin, ob die Heilmethode nicht nur in der Lage ist, die Symptome zu beseitigen, sondern auch das mit zu beeinflussen, was mitverantwortlich war für das Auftreten dieser Symptome, nämlich die „Anlage“ zum Krankwerden. Es ist jedem kranken Menschen die Möglichkeit der „Auswahl“ mitgegeben. Alle „Anlagen“ sind erworbene Eigenschaften, ob von dem jetzt erkrankten Menschen selbst oder durch andere vor ihm (Vererbung, Reinkarnation) soll dabei vorerst unwichtig sein (miasmatische Frage). Entscheidend ist allein, dass alles, was erworben wurde, keine starre Tatsache sein kann, sondern verändert und gewandelt werden kann. Hahnemann weist im <185> 8 darauf hin, dass „..., nach Hebung aller Krankheitssymptome und des ganzen Inbegriffs der wahrnehmbaren Zufälle, etwas anderes als Gesundheit übrig bliebe oder übrig bleiben könne,...“. Er verbietet zu recht im <185> 6 jegliche „...übersinnliche Ergrübelungen...“ und erwähnt im <185> 5, dass die Grundursachen meist auf einem chronischen Miasma beruhen.

Wenn nach dem Verschwinden aller erkennbaren Symptome nichts als Gesundheit bleibt, dann müssten die homöopathischen Arzneien die „Anlage“ über die Symptome rückläufig – sozusagen unsichtbar – beeinflussen („Da nun jedesmal in der Heilung,..., zugleich die ihr zum Grunde liegende, innere Veränderung der Lebenskraft – also das Total der Krankheit gehoben wird, ...“ <185> 17). Je reichlicher und lebendiger das Spiel der Symptome ist, desto sicherer können wir die ähnlichste Arznei wählen und beobachten, dass nicht nur die aktuellen Symptome verklingen, sondern dass es im günstigen Fall auch kein erneutes Auftreten dieser oder heftigerer Symptome geben wird. Jeder Homöopath kennt solche wunderbaren Fallverläufe aus der Praxis und sie sollen uns hier als erster Beweis dafür dienen, dass eine homöopathisch verordnete Arznei nicht nur Symptome beseitigt, sondern auch die Anlage zu ihrer Entwicklung mit beheben kann. Doch leider wird der Alltag nicht von solchen Verläufen bestimmt. Vielmehr kennen wir Fallverläufe, bei denen wir entweder öfters die Arzneien wechseln mussten oder in denen der Patient, wenn auch in größeren Abständen, so doch immer wieder mit einer ähnlichen „Problematik“ zu uns kommt (s.o.).

Die Symptome sollen als Botschaften oder Wegweiser verstanden werden. Durch die Kraft des Heilmittels kann der aufgezeigte Weg dann wirklich beschritten werden, und der Patient kann in den Prozess einer Verwandlung eintreten. Dadurch wird es dann meist erstmals möglich, gemeinsam mit dem Patienten den tiefsten für seine Problematik erkennbaren Auslöser herauszuarbeiten, zu bearbeiten und, wo möglich, aufzulösen. Aus dem Erkennen unserer eigenen seelsorgerischen und psychischen Defizite, hat sich mit der Zeit eine Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten aus unterschiedlichsten psychotherapeutischen Einrichtungen entwickelt. Diese Form der Arbeit hat die Frage aufgeworfen, inwieweit es nicht für den sich am Prozess orientierenden Homöopathen eine Notwendigkeit ist, sich selbst psychotherapeuthisches Wissen anzueignen, und was dem vorausgeht, sich selbst in einen psychotherapeutischen Prozess hineinzubegeben.


Die „Anlage“

Mit dem Faktor, der in der Homöopathie mit dem Begriff der „Anlage“ oder Konstitution bezeichnet wird, arbeiten einige Heilmethoden, ohne ihn jemals in seiner inhaltlichen Aussage definiert zu haben. Die „Anlage“ ist eine Größe, mit der der Mensch geboren wird. In ihr sind die Stärken und Schwächen angelegt, die diesem Menschen zunächst unbewusst für sein In-Beziehung-Treten mit der Umwelt und seiner Primärgruppe (Eltern und Geschwister) zur Verfügung stehen. Trotz des unbewussten Ausdrucks ist es aber möglich, diese „Anlage“ zu benennen. Am leichtesten ist das möglich, wenn dieser Mensch Symptome zeigt, die uns diese „Anlage“ erkennen lassen (z. B. Milchunverträglichkeit, Hautreaktionen, Anfälligkeit für Infektionen usw.). Wir suchen dann nach einem ähnlichen Arzneimittel und sagen, dass der Patient z. B. eine Calcium-carbonicum- oder Lycopodium- oder Medorrhinum-Konstitution hat.

Wir möchten diesen Begriff der „Anlage“ aber noch weitgehender definieren. Durch die neuen Arzneimittelprüfungen bzw. -begegnungen ist es uns möglich geworden (s.u.), nicht nur ein „Krankheitsbild“, sondern auch ein „Gesundheitsbild“ in einer Arznei zu erkennen. Aus diesem Grund sprechen wir vom „Wesen der Arznei“; dieses „Wesen“ ist ein umfassendes und bildet eine Ganzheit, die aber, da sie z. B. zum Bereich der Pflanzen gehört, einen passiven Ausdruck besitzt und bei den Pflanzen selbst in keiner Form als „krank“ in Erscheinung tritt, sondern lediglich eine „Verzerrung“ der „Urpflanze“ darstellt (W. Pelikan, Heilpflanzenkunde I). Eine Lycopodium-Spore trägt in ihrem Wesen alles in sich, was auch einen lycopodischen Menschen ausmacht, d. h., die Wesenhaftigkeit z. B. einer Pflanze oder eines Minerals ist ähnlich der „Anlage“ oder Konstitution eines Menschen im „Positiven“ wie im „Negativen“ – mit dem Unterschied, dass sich der Mensch dieser „Anlage“ bewusst werden und verändernd auf sie einwirken kann.

Wenn wir uns ein Bild von dieser „Anlage“ machen wollen, dann bedienen wir uns des alten Symbols der inneren „Tafelrunde“. In unserem bildhaften Sinne besteht die „Tafelrunde“ beim Gesunden aus Teilpersönlichkeiten, die unserem Wesenskern zu Diensten sind und auch untereinander einen offenen und liebevollen Kontakt pflegen. Bei einem kranken und/oder behandlungsbedürftigen Menschen sind durch eine nicht gegebene Entwicklungsmöglichkeit oder durch tiefgreifende, traumatische Erlebnisse eine oder mehrere seiner Teilpersönlichkeiten aus dem Verband der inneren „Tafelrunde“ ausgeschert, zusammengebrochen oder dominierend hypertrophiert. Im letzteren Fall entsteht z. B. das, was „prozessorientiert“ ein Lycopodiumzustand genannt werden kann. Lycopodium als Heilmittel führt nun diese Teilpersönlichkeit wieder in einen Zustand von Gesundheit und Harmonie zurück. So kann diese Teilpersönlichkeit, ihre Qualität und Kraft innerhalb der inneren „Tafelrunde“, unter Führung unseres inneren Wesenkerns zum Zwecke einer allgemeinen Weiterentwicklung eingesetzt werden.

Die Individualität eines Menschen kann durch die verschiedenen Plazierungen der einzelnen Teilpersönlichkeiten zum Ausdruck gebracht werden. Wenn z. B. dem inneren Wesenskern – symbolisiert durch den König, aber eigentlich transzendenter, unsterblicher Kern, der innere Buddha – eine lycopodische Teilpersönlichkeit zur Rechten sitzt, dann stehen wir einem – lycopodischen – Menschen gegenüber, der viel mit Macht und Gerechtigkeit zu tun haben wird (siehe HE Heft 17). Natürlich wird dieser Mensch umso schwerer krank sein, wenn ausgerechnet diese zentrale Teilpersönlichkeit in völliger Disharmonie zur inneren „Tafelrunde“ steht. Andererseits können auch andere Teilpersönlichkeiten, die durch ihre Ähnlichkeit mit einer anderen Arznei korrespondieren, ebenso desintegriert sein, wobei ihre Eingliederung um ein vielfaches leichter sein wird, je weiter sie vom zentralen Kern entfernt sind. Trotzdem wird es jeder Arznei immer nur möglich sein, zu dieser Integration einzuladen, sie wird sie aber nicht dauerhaft gegen den Willen des Patienten aufrecht erhalten können.

Das heißt, dass der Patient nicht nur ein Heilmittel benötigt, um gesund zu werden (dazu unten mehr), es bedeutet, dass wir alle eine „Anlage“ besitzen, der wir einen Namen – den der dominantesten Teilpersönlichkeit – geben können und die innerhalb relativ fester Grenzen – durch die Struktur der einzelnen Teilpersönlichkeiten – beschreibbar ist. Diese „festen Grenzen“ werden nun von vielen, die dem Menschen eine unumschränkte Entwicklungsmöglichkeit geben wollen, bestritten. Der Mensch an sich hat diese unumschränkte Entwicklungsmöglichkeit, aber nicht das Individuum, also der einzelne Mensch. Diesem sind „Beschränkungen“ mitgegeben, die sich für einen Homöopa-then wiederum aus seinem Konstitutionsmittel erkennen lassen.

Wem das Bild der inneren „Tafelrunde“ an dieser Stelle zu maskulin erscheint, dem möchten wir ein weiteres Bild zur Verfügung stellen. Wir können uns auch vorstellen, dass jeder von uns Eigentümer eines Hauses mit vielen Räumen ist. Diese Räume sind alle unterschiedlich groß und liegen in unterschiedlichen Etagen. Kein Haus gleicht dem anderen. Über die Einrichtung der Räume bestimmen wir selbst, nicht aber über Anzahl und Größe. Z. B. hat ein arsenischer Mensch große Räume von Disziplin, Arbeitseifer, Ordnungssinn und kleine Räume für Mitleid, Trauer usw.. Wenn er zu uns als Patient kommt, dann kann es uns möglich sein, den Namen dieses Hauses zu erfahren und die Einrichtung der Zimmer zu erkennen. Die einzelnen Arzneiwesen werden nun die verschlossenen Zimmer öffnen und diejenigen, die ohne Mobiliar sind, einrichten und die verschönern, die noch etwas kärglich aussehen. Aber ob der Hausherr diese Veränderungen akzeptiert, das liegt alleine bei ihm.

Mit diesem weiteren Beispiel möchten wir betonen, dass die „Beschränkung“ nicht nur ein negativer Aspekt ist. Vielmehr ist sie Schutz und Möglichkeit zugleich. Schutz bietet sie insofern, als wir uns nicht in der Vielzahl der Unbegrenztheit verlieren und Möglichkeit insofern, als wir unsere Qualitäten bis zur „Vollkommenheit“ ausbauen können und damit das erreichen, was zwar auf dem Weg einer Heilung liegt, aber nicht ihr eigentliches Ziel ist (s.u.), nämlich eine Ich-Identität, eine Persönlichkeit.

Die Homöopathie ist eine erlebnis- oder erkenntnisfördernde Medizin. Sie nimmt uns aber nicht den mühsamen oder anstrengenden Prozess der Wandlung ab, sondern kann uns bestenfalls Kraft für diesen Prozess zur Verfügung stellen. Unsere Freiheit ist die Freiheit, uns trotz des rechten Mittels gegen den Prozess der Wandlung zu stellen; wir haben also die Freiheit, krank bleiben zu dürfen.


Das Heilungsgeschehen

Wenn wir uns mit dem Heilungsgeschehen befassen, dann müssen wir erst einmal klären, was heil oder gesund sein bedeutet – immer unter dem Vorbehalt, dass wir einen absolut gesunden Menschen nie erleben werden. Die Definitionen sind so vielfältig wie die Beschreibungen über den Weg, wie ein Kranker dorthin gelangt. Da niemand von uns jemals einen wahrhaft Gesunden erlebt hat, fällt es natürlich schwer, etwas zu beschreiben, was wir eigentlich so nicht kennen. Dennoch möchten wir den Versuch wagen und unsere Vorstellung von Gesundheit kurz andeuten:
Gesundheit heißt, in seinen Entscheidungen frei zu sein, eine reichhaltige Gefühlswelt zu besitzen, seinen Intellekt uneingeschränkt gebrauchen zu können, den Körper frei von Beeinträchtigungen zu erleben und bei all dem – und das ist das Wichtigste – diese Eigenschaften konstruktiv zum Wohle und Nutzen aller zur Verfügung stellen zu können – ganz im Sinne der Einsicht, dass wir alle Teil eines Ganzen sind.

Wenn wir uns diese Beschreibung als Grundlage nehmen, dann können wir erkennen, dass der Mensch nicht wie überall in der Homöopathie beschrieben aus drei, sondern aus vier Wesensgliedern besteht.
Vithoulkas spricht, wie alle anderen vor ihm auch, von den drei Seins-Ebenen des Menschen. Er unterscheidet die geistige, emotionale und körperliche Ebene. „Die geistige Ebene eines Menschen umfasst die bewusste Verarbeitung bzw. Umsetzung innerer und äußerer Eindrücke.“ (S.30) Dazu gehören unter anderem die Gedächtnisfähigkeit, die Konzentrationsfähigkeit und die Denkfähigkeit, die sich alle durch ihre Klarheit im Ausdruck, ihre Zweckmäßigkeit und Logik und ihren schöpferischen Einsatz darstellen sollten. Bei der geistigen Ebene wird unserer Meinung nach etwas vermischt, was Wert ist, getrennt betrachtet zu werden. Zum einen gehören zur geistigen Ebene Fähigkeiten, die durch das Organ Gehirn – auch durch ein Tiergehirn – bewältigt werden können und zum anderen Fähigkeiten, die allein dem Menschen eigen sind und zu dem er das braucht, was wir hier als sein „Ich“, sein „Selbst“ bezeichnen wollen.

Wenn wir nach der „Anlage“ zum Krankwerden fragen, dann müssen wir die Antwort in dieser, der vierten Seins-Ebene suchen. Das „Ich“ ist im Gegensatz zu allen anderen Seins-Ebenen in der Lage, eine Beziehung bewusst aufzunehmen. D. h., es kann, muss aber nicht, zu jedem Zeitpunkt die Entscheidung treffen, ob und wie es sich zu etwas anderem in Beziehung setzt. Die wichtigste Entscheidung, die unser „Ich“ immer wieder zu treffen hat, ist die um unser Wachstum, das Wachstum aller anderen Ebenen wie das Wachstum seiner selbst. Zuerst entwickelt sich die Form (das Embryo), dann die Empfindung, dann die Wahrnehmung und Begrifflichkeit, und erst wenn „etwas“ (der Mensch) im abschließenden Prozess dieser Entwicklung in der Lage ist, diese Fähigkeiten auf sich selbst zurückzuwerfen, auf sich selber zu beziehen und es zu bewerten, dann erwächst das, was wir Bewusstsein nennen.
Mit diesem Bewusstsein um uns selbst gelangen wir zur Entwicklung des „Ichs“ und somit zum Wachstum des Selbstbewusstseins, das die Fähigkeit zur bewussten Entscheidung hat.

Damit wird deutlich, dass wir nie Opfer sind, sondern immer Handelnde, auch wenn wir uns für ein Krank-Sein oder für ein nicht handeln entschieden haben, so bleibt es doch eine Entscheidung unserer selbst.

Dieses „Ich“ ist keine Ich-Identität in dem Sinne, dass sie ein Wert ist, der alles andere erst wertvoll macht und das Ende einer Entwicklung darstellt. Es ist eine Stufe in einem Wachstumsprozess und in dieser Ebene „erwachsen“ zu werden, heißt gleichzeitig, die Möglichkeit zu besitzen, mit einer weiteren Stufe in Verbindung zu treten, die über ihr liegt und die sich im Spirituell-Religiösen ausdrückt. Das Ziel jeder Meditation, frei zu sein, sich zu lösen, bedeutet immer erst einmal etwas besessen zu haben, von dem man sich lösen kann. Auch sein „Ich“ auf dieser Stufe aufzugeben, bedeutet erst einmal, es entwickelt zu haben.

Wenn wir uns mit dem Heilungsgeschehen befassen, dann haben wir insbesondere die Entwicklung, das Wachstum dieser vierten Stufe, des „Ichs“ zu betrachten, sie ist aber nicht gleichbedeutend mit einem Ziel. Da in ihr die „Anlage“ verborgen ist, dient sie uns außerdem als Beobachtungsebene, ob eine verordnete Arznei, „nach Hinwegnehmen der Gesamtheit der Symptome“, wirklich rückläufig auf die „Anlage“ heilend gewirkt hat. Die Beobachtung lehrt uns, dass die richtige Arznei immer auf die „Anlage“ wirkt, indem wir nicht nur das Verschwinden der Symptome erkennen, sondern auch eine deutliche Ich-Stärkung erleben. Allerdings liegt die Betonung dabei auf dem Wort 'wirken' und nicht darauf, ob sie auch heilend wirkt. Oft genug verflüchtigt sich der Zustand der Ich-Stärkung wieder von alleine, und die alte Ich-Schwäche tritt wieder deutlicher in den Vordergrund, im Schlepptau alte oder neue Symptome.

Dass die richtige Arznei nicht heilend wirkt, kann daran liegen, dass sie in einer falschen Dosierung, in einer falschen Potenzierung, zur falschen Zeit gegeben wurde oder daran, dass der Patient nicht gesund werden möchte. Die homöopathische Arznei zwingt keine Heilung auf. Sie steht in Beziehung zum Patienten und ist in der Lage, ihn sozusagen für eine Zeit dazu zu überreden – „Das Heilvermögen der Arzneien beruht daher auf ihren der Krankheit ähnlichen und dieselbe an Kraft überwiegenden Symptomen,...“ <185> 27) -, sich gesünder zu fühlen oder zu verhalten. Sie ist aber nicht in der Lage, eine Entscheidung für den Patienten zu treffen. Um das zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass jeder kranke Mensch nicht nur unter seinem Kranksein leidet, sondern immer auch einen Nutzen aus ihm zieht. Nehmen wir zum besseren Verständnis ein Beispiel: Ein lycopodischer Angeber, der immer alles besser weiß und mit seinem Können und Wissen prahlt, genießt den Vorteil, dass er gesellschaftlich viel Anerkennung erhält, und er leidet darunter, dass er immer auf der Hut sein muss, dass ihm niemand hinter die Fassade schaut. Diese dauernde Alarmbereitschaft führt irgendwann zu auch für ihn sichtbaren Symptomen. Eine Lycopodium-Gabe behebt diese Symptome und lässt ihn z. B. in seinen emotionalen Reaktionen unkontrolliert werden. Es kann z. B. sein, dass er in einer Situation plötzlich einen Wutausbruch bekommt, der seine wahre Einstellung zeigt und der damit seinen schwer erarbeiteten Platz innerhalb der für ihn so wichtigen Rangordnung gefährdet. Er steht nun vor der ungeheuer schweren Entscheidung, ob er lieber das vertreten soll, was er wirklich fühlt und denkt, oder ob er sich mit seiner gewohnten Maske wieder einordnet. Entscheidet er sich für das erstere, bedeutet das für ihn zunächst ein Gefühl von totaler Hilflosigkeit und drohendem Zusammenbruch seines Lebens. Wichtig ist nicht, ob dieser Tatbestand (Hilflosigkeit und Zusammenbruch) auch wirklich eintrifft oder einen für den Behandler erkennbaren realen oder irrealen Bezug hat, sondern wichtig ist, dass der Patient diese Empfindung hat und dass er unter dieser Empfindung seine Entscheidung zu treffen hat. Wichtig ist außerdem, dass er vor dieser Entscheidung schon einmal stand (z. B. als Sechsjähriger in der Schule), sich damals, aus Mangel an Bewusstsein und weil er als Kind nur über wenige Reaktionmuster verfügt, für die Maske entschieden hat und damit, zumindest erstmals aus seiner Sicht, gut gefahren ist. Nun wurde durch die Gabe von Lycopodium dieses Vernichtungsgefühl und die Entscheidungsnotwendigkeit erneut geweckt. Die Arznei wird nicht für ihn entscheiden. Er muss es tun, und er hat die Wahl, wieder genauso zu entscheiden wie damals oder, wenn er die Kraft zum Wachsen hat, anders als damals. Hat er die Kraft aus sich heraus, dann können wir sagen, dass die Arznei durch ihre Wirkung auf die „Anlage“ eine Heilung ermöglicht hat. Hat er die Kraft aus sich heraus nicht, dann wird es ihm eine Zeit gutgehen, bis er erneut alte oder neue Symptome zeigt, die wieder nach einer Gabe Lycopodium verlangen. An dieser Stelle des Heilungsverlaufes kommt ein Faktor ins Spiel, der schlichtweg in der gesamten theoretischen Darstellung der Homöopathie als etwas Positives vergessen oder geleugnet wird: der Homöopath (s.u.).

Es soll hier nicht der Verdacht entstehen, dass jeder Patient nur ein einziges, nämlich sein Konstitutionsmittel benötigt, um gesund zu werden. Z. B. kann es sein, dass ein arsenischer Mensch in seiner Pubertät Probleme mit dem Ausdruck seines Geschlechts bekommt. Anknüpfend an unsere obigen bildhaften Vorstellungen, würden dadurch „Zimmer“ aus dem Haus des Patienten – z. B. die der Sexualität und Würde – übermäßig beladen und für ihn entfremdet oder eine Teilpersönlichkeit – z. B. die sepische – desintegriert sein. Das ähnlichste Arzneimittel könnte jetzt Sepia sein, auch wenn die Pubertät schon seit Jahrzehnten vorbei ist. Sepia ist aber dennoch in unserem Verständnis nicht das Konstitutionsmittel dieses Patienten, sondern eine Arznei, die in falsch eingerichteten Zimmern für Ordnung sorgen kann, bzw. die desintegrierte Teilpersönlichkeit wieder an den Tisch bittet. Grundsätzlich obliegt es aber auch hier wieder dem Patienten, ob er die neue Ordnung und die damit verbundenen Konsequenzen als etwas Eigenes übernehmen kann oder nicht.

Im Sinne der prozessorientierten Homöopathie vollzieht sich im allgemeinen die Heilung in vier Schritten:

  1. Wahrnehmen, sichten und Kontaktaufnahme zu den Teilpersönlichkeiten.
  2. Die einzelnen Teilpersönlichkeiten entwickeln und zu ihrer eigenen Harmonie führen.
  3. Die Teilpersönlichkeiten an unserer inneren „Tafelrunde“ versammeln und sie in einen harmonischen, fruchtbaren Kontakt zueinander zu bringen.
  4. Sie dem Dienst am Wesen unterstellen.

Der Homöopath

Als Behandler treten wir ebenso in ein Beziehungsgeschehen ein, wie das die Arznei tut. Wir bieten uns dem Patienten als ein Gegenüber an. Je nach unserer eigenen Individuation bereiten wir ihm schon im Vorfeld eine Atmosphäre – z. B. durch unsere Praxis – die auf ihn wirken wird.

Dann bieten wir uns ihm als aufmerksame Zuhörer an und bemühen uns um eine umfangreiche Anamnese. Anamnese bedeutet im eigentlichen Sinn „Erhebung“. D.h., wir versuchen etwas zu erheben, aus dem „Dunkel“ herauszuheben, es bewusst werden zu lassen. Das ist weitaus mehr als eine bloßes Notieren aufgezählter Symptome. Dieses Bewusstwerden ist ein doppelter Akt, er soll sich sowohl bei dem Behandler wie auch bei dem Patienten vollziehen.

Außerdem sollten wir als Homöopathen bemüht sein, dem Patienten einen geschützten therapeutischen Rahmen zu schaffen, in dem er sich so geborgen und sicher fühlt, dass er bereit ist, alte Wunden aufbrechen zu lassen und sich mit seinem Schatten zu konfrontieren.

Um all das möglich werden zu lassen, bedarf es zweier Bedingungen. Erstens sollte es dem Homöopathen gelingen, seinem Patienten während der Behandlung in allen Bereichen so ähnlich wie möglich zu werden und zweitens sollte der Homöopath bereit sein, an seinem eigenen Wachstum, an seiner eigenen Bewusstwerdung ständig zu arbeiten.

Um dem Patienten ähnlich zu werden, muss der Homöopath über eine sehr reichhaltige und lebendige Wissens-, Erfahrungs- und Erlebensquelle verfügen. Das Großartige besteht darin, dass diese Quelle uns durch die Arzneimittel selbst gegeben wird, wenn wir sie prüfen oder wie wir besser sagen, wenn wir uns auf eine Arzneimittelbegegnung einlassen. Wie wichtig diese Erfahrungen sind, wurde anfangs durch unsere erschütternde Erkenntnis deutlich, dass wir als Therapeuten den Verwandlungsprozess unseres Patienten nur so weit begleiten können, wie wir ihn auf unserem eigenen Erkenntnis- und Verwandlungsweg erlebt haben.

Wenn wir uns z. B. auf die Reise der Arzneimittelbegegnungen begaben, dann konnten wir nicht nur die auftretenden Bilder und Visionen bestaunen, sondern mussten diese mittels Supervision für unseren Wachstumsprozess nutzbar machen, wenn wir selbst im Prozess bleiben wollten. Mit den Jahren der Arbeit unter diesen Vorzeichen ging unser Augenmerk immer mehr dahin, unseren Patienten nicht mehr nur homöopathisch ihren Prozess zu initiieren, sondern sie darüber hinaus seelsorgerisch psychotherapeutisch zu begleiten und unsere Arzneimittelwahl den jeweiligen Bildern bzw. den neu auftretenden Teilpersönlichkeiten anzupassen; was aber nicht bedeutet, dass wir bei jedem neuen Aspekt eine andere Arznei geben. Gute Fallverläufe zeichnen sich in der Regel auch dadurch aus, dass der Patient nur wenige verschiedene Arzneien erhielt, diese aber in verschiedenen Potenzierungsstufen oder -formen eingesetzt wurden.


Arzneimittelbegegnungen

In der Homöopathie ist uns die große Möglichkeit gegeben, relativ gefahrenfrei Arzneimittel an uns selbst zu prüfen. Anfänglich dienten diese Arzneimittelprüfungen dem Zweck, die Arzneimittellehren zu ergänzen oder zu erweitern. Heutzutage treten zu dem alten Zweck noch zwei neue hinzu.

Über das Auftreten von Einzelsymptomen hinaus wird der Prüfende mit charakterlichen Veränderungen konfrontiert, die ihm nicht selten vorkommen, als würde ein fremdes Wesen von ihnen Besitz ergreifen. Noch während sie z. B. auf eine Situation mit einem Wutausbruch reagieren, spüren sie und können es auch bewusst wahrnehmen, dass sie eigentlich in dieser Situation sonst so nicht reagieren würden, jetzt aber diesen Impuls nicht mehr unter Kontrolle haben. Zunächst einmal ist jeder geneigt, diese sonderbare Reaktionen allein der Wirkung des Arzneimittels zuzuschreiben. Aber das Arzneimittel allein kann keine Symptome entwickeln. Wenn es anders wäre und eine Arznei allein von sich heraus ein Symptom entstehen lassen könnte, dann müssten alle Menschen, die diese Arznei prüfen, dieselben Veränderungen sowohl in ihrer Quantität wie auch in ihrer Qualität wahrnehmen. Die Realität zeigt aber, dass einige Prüfer bei bestimmten Arzneien gar keine Veränderungen verspüren, bei anderen Arzneien jedoch sehr heftige Erlebnisse haben. Somit scheint es deutlich zu sein, dass eine Arznei sich ausschließlich dann zu erkennen gibt, d. h. Befindensveränderungen bewirkt, wenn sie mit einem „fruchtbaren Boden“ in Berührung kommt. Das ist allerdings nur dann gegeben, wenn Ähnlichkeiten zwischen dem Prüfer und der Arznei existieren.

Der Prüfer begegnet mit seiner Gesamtheit dem Wesen des Arzneimittels. Alles, was er während dieser Arzneimittelbegegnung wahrnimmt, sind Anteile seiner eigenen Struktur, die durch die Anwesenheit des Arzneimittels verstärkt oder geweckt werden. Zunächst mag diese Einsicht befremdend wirken, wenn wir auf Strukturen stoßen, die uns erschrecken und die wir immer so vehement als etwas Verurteilungswürdiges bei anderen betrachtet haben. Wir könnten z. B. erleben, wie wir unsere eigenen Kinder schlagen (Anac.), wie wir Lust am Töten bekommen (Merc.), wie wir das andere Geschlecht lieben, obwohl wir es sonst hassen (Sep., Puls.) oder wie wir Mitleid empfinden, wo wir sonst selbstgerecht waren (Lyc.). Letztendlich beinhalten diese Begegnungen aber einen großen Schatz. Es ist nun zum einen möglich, die einzelnen Symptome aufzuschreiben, und zum anderen erleben wir an uns selbst, wie sich der „andere“ fühlt, wie er denkt und handelt; außerdem entdecken wir unsere eigenen Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten.

Während einer Arzneimittelbegegnung werden nur Dinge auf uns zukommen oder mit uns geschehen, die wir in uns selbst als Möglichkeiten oder Darstellungform besitzen. Dabei ist es nicht wichtig, ob diese Strukturen in uns bereits gelöst, d. h. konstruktiv oder ungelöst, d. h. mehr oder weniger destruktiv vorhanden sind. Strukturen, die uns wesensfremd sind, können auch durch eine Arznei nicht in uns hineinprojiziert werden und das allein deswegen nicht, weil die homöopathisierten Arzneien ausschließlich nach dem Ähnlichkeitsgesetz wirken. Natürlich scheint es viel einfacher, wenn sich ein Prüfer allein mit der Aufzählung seiner erlebten Symptome, Träume oder Verhaltensauffälligkeiten begnügt, so als ob er nur ein Werkzeug dieser Arznei war. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, die durch eine Arzneimittelbegegnung in Gang kommt, wirkt hingegen beschwerlich und nicht berechenbar, ist aber letztendlich eine großartige Möglichkeit, seinem Patienten gegenüber mitfühlender und ähnlicher sein zu können, wobei die eigene Entwicklung immer wieder neue Anregungen erhält. Arzneimittelbegegnungen, die in neuester Zeit durchgeführt wurden, bestätigen nicht nur die bereits bekannten Symptome, sondern sie erweitern auch die Arzneimittelbilder.


Die Arzneimittelbilder

So wie ein kranker Mensch mehr ist als die Summe seiner Symptome, so ist auch das Wesen eines Arzneimittelbildes mehr als die Summe seiner Prüfungssymptome. In der Homöopathie gibt es zwei Darstellungsarten von Arzneimitteln. Zum einen kennen wir die „Reine Arzneimittellehre“, in der die Prüfungssymptome in ihrer Vollständigkeit aufgezählt werden, und zum anderen kennen wir die Arzneimittelbilder, in denen versucht wird, die wichtigsten Prüfungssymptome einschließlich der Erfahrungen mit den Patienten zu einem Bild zusammenzufassen.

Im großen und ganzen hat sich daran nichts verändert. Neu ist lediglich, dass wir heute Arzneimittelbegegnungen bis in den Bereich der Hochpotenzen durchführen und dass wir dadurch auf Erscheinungen und Erfahrungen stoßen, die unseren Blick mehr auf Dinge lenken, die vorher eher stiefmütterlich behandelt wurden. So treten besonders im Bereich der Hochpotenzen die körperlichen Symptome deutlich in den Hintergrund, und die emotionalen Erlebnisse sowie die Träume werden reichhaltiger und intensiver. Besonders wichtig ist dabei das Traumgeschehen, das oftmals einen völlig unverschlüsselten Einblick in das eigentliche Wesen der Arznei und damit auch in die „Anlage“ des Patienten zulässt.

Von ebenso großer Bedeutung ist es außerdem, dass wir bei den Arzneimittelbegegnungen nicht nur auf krank wirkende Symptome stoßen (z. B. auf Neid) sondern auch positive Erlebnisse haben (z. B. Unerschütterlichkeit). Diese Erlebnisse vervollständigen unsere Arzneimittelbilder derart, dass wir nun nicht nur erkennen, was mangelhaft ist, sondern auch welche positiven Eigenschaften ein Mensch, der diesem Bild entspricht, entwickeln kann. Das ist insofern wichtig, als wir damit nicht der falschen Meinung unterliegen müssen, dass ein Mensch völlig unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten in sich trägt. Er hat seine individuellen Grenzen, in denen sich einige menschliche Qualitäten nur schwach und andere sozusagen bis zur Vollkommenheit entwickeln können. Dieses Spektrum wird durch die Darstellung, die wir mit unseren Arzneimittelbildern zu geben versuchen, besonders deutlich. Dadurch ist es möglich, dass der Homöopath sich während der Arzneiwirkung bei einem Patienten dieses Spektrum immer vor Augen halten kann und nicht durch die Vielzahl an allgemeinen Möglichkeiten seine Orientierung verliert.

Wenn wir z. B. einen lycopodischen Menschen als Patienten vor uns haben, wissen wir unumstößlich, dass es sich bei ihm um das „Problem“ handelt, eigene Schwäche zuzugeben (und nur Lycopodium hat diese „Problematik“ so zentral und existentiell) und dass er immer wieder versuchen wird, uns durch seinen bestechenden Intellekt vom Wesentlichen, nämlich von seiner rudimentären Wahrnehmung seiner erlebten Gefühle abzulenken (die ihn immer wieder diese Schwäche spüren lassen). Wir brauchen uns nicht um „Probleme“ wie Faulheit, Trägheit, Neid, Eifersucht oder andere zu sorgen. Diese Bereiche bilden in ihm keine eigentliche „Problematik“ (siehe Heft 17). Dadurch ist es möglich, den Patienten beim Erkennen seiner „Anlage“ behilflich zu sein und für ihn den nötigen Rahmen zu schaffen, dass er nun neue Entscheidungen treffen kann.
Die Betonung liegt hierbei auf dem Wort Erkennen und damit ist ein Selbsterkennen gemeint, ohne das eine Veränderung nicht beginnen kann. Ratschläge oder Anweisungen sind völlig falsche Eingriffe.

Durch die neuen Arzneimittelbegegnungen sind unsere bekannten Arzneimittelbilder zum einen umfangreicher geworden und zum anderen sind wir in die Lage versetzt worden, in den Bereich des Unbewussten und der „Anlage“ schauen zu dürfen. Ein Arzneimittel umfasst in seiner Wesenheit sämtliche Dimensionen und Ausdrucksmöglichkeiten eines Menschen.
Die Wesenheit des Arzneimittels zeigt diese Eigenschaften aber immer aus einer ihr eigenen Sicht und besitzt immer einen Schwerpunkt. Insofern ist sie dem Menschen ähnlich, da auch in ihr alles verborgen ist – und durch die Arzneimittelbegegnungen sichtbar werden kann, was auch im Menschen als Anlage vorhanden ist.


Die miasmatische Dimension im Sinne des kollektiven Feldes

Ausgang für das Verständnis um das kollektive Feld ist die Einteilung kranker Zustände in drei Krankheitsebenen, der akuten, der chronischen und der miasmatischen Ebene.

  • Die akute Krankheitsebene

    Die akute Krankheitsebene zeichnet sich durch ihre engen Begrenzungen aus. Sie ist Ausdruck einer momentanen Auseinandersetzung des Menschen mit einem auf ihn aktuell einwirkendem „Problem“. Ihre Symptomatik ist meist sehr direkt erkennbar, fällt oft mit klinischen Krankheitsbildern zusammen, lässt am ehesten eine sogenannte „auslösende Ursache“ erkennen und führt in der Regel schnell und von selbst zur Genesung oder seltener schnell in todesnahe Zustände. Die eingesetzten Arzneien bringen die entwickelten Symptome mit relativ gleicher Intensität und gleichem Zeitaufwand wieder zum Verschwinden.

    In jedem Fall ist aber auch bei der akuten Erkrankung die „Anlage“ dazu mit betroffen. Durch die rasante Entwicklung und den schnellen Heilungsverlauf fällt es aber schwer, ein Urteil darüber abzugeben, ob bei jeder akuten Erkrankung auch eine echte Heilung stattgefunden hat oder ob die Arznei nur kurativ gewirkt hat. Am deutlichsten können wir eine echte Heilung noch bei den sogenannten Kinderkrankheiten erkennen, wo die Kinder nach ihrer Heilung (ob mit oder ohne Arznei) meist einen deutlichen Entwicklungsschritt erkennen lassen.

  • Die chronische Krankheitsebene

    War es bei den akuten Krankheiten noch möglich, homöopathische Arzneimittel ohne ein großartiges homöopathisches Verständnis mit Erfolg zu verordnen, so ist es nun unumgänglich – will man Erfolge sehen – homöopathisch zu denken. Um die ganze Dimension der Erkrankung erfassen zu können, bedarf es einer Wahrnehmung aller Ebenen und Symptome des erkrankten Menschen in seiner Ganzheit.

    Eine chronische Erkrankung umfasst immer das ganze Individuum mit seiner eigenen Lebensgeschichte, seiner sozialen Situation, seinen emotionalen Strukturen usw. In diesen Fällen wird es immer möglich sein, zumindest rückwirkend durch das richtige Arzneimittel die „Anlage“ zu dieser Erkrankung zu erkennen. Dabei wird es sich immer um eine mangelhaft ausgebildete Ich-Ebene handeln, die zu Fehlhaltungen, Fehlentscheidungen und somit zu einem grundsätzlich gestörten Lebensgrundgefühl führten.

    Eine Heilung wird demzufolge nur dann möglich sein, wenn es dem kranken Menschen gelingt, eine „neue Entscheidung“ zu treffen, die zwangsläufig auch eine Stärkung der vorher geschwächten Ich-Ebene zur Folge hat.

  • Die „miasmatische“ Krankheitsebene

    Um in das Verständnis dieser Ebene vorzudringen, bedarf es der Einsicht eines Homöopathen, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Erscheinungen und Ausdrucksformen. Nur wenn wir begreifen, dass jeder einzelne Teil eines Ganzen ist und dieses Ganze auf ihn so wirkt wie er als einzelner auf das Ganze, wird es uns möglich sein, Zugang zu den Möglichkeiten zu erhalten, die uns diese Ebene bietet. Die miasmatische Ebene oder das kollektive Feld geht über die individuelle Ebene hinaus, sie umfasst das gesamte Kollektive, Gemeinschaftliche, Menschheitsgeschichtliche und Universale. Der einfachste Einblick, der uns in diese Ebene möglich ist, vollzieht sich durch das Verständnis um das Auftreten sogenannter Seuchen. Bei diesen „Krankheiten“ handelt es sich nicht um die Erkrankung eines einzelnen Menschen, sondern um ein krankes kollektives Feld, in dem wiederum der einzelne eingebettet ist. Hier stellt sich der einzelne in Beziehung zum Ganzen, und auch hier wird ihm keine Entscheidung aufgezwungen, er kann sie selbst treffen. Aber auch dort, wo wir uns nicht mit einer Seuche auseinandersetzen müssen, existiert ein miasmatisches Geschehen, das auf uns wirkt und auf das wir wirken.

Die neuen Arzneimittelbegegnungen, vor allem im Bereich der Hochpotenzen, haben uns gezeigt, dass jedes Arzneimittel eine akute, chronisch-individuelle und miasmatisch-kollektive Ebene hat. Somit gehen wir nicht mehr von drei oder vier oder fünf Miasmen aus, sondern von einer Vielzahl von Miasmen oder besser, unverfänglicher ausgedrückt von einer Vielzahl kollektiver Felder, nämlich von so vielen, wie wir Arzneimittel haben. Dieses Phänomen wurde zum einen durch Träume deutlich zum Ausdruck gebracht und zum anderen durch die in Gruppenprüfungen aufgetretenen Gruppenstimmungen. Einige Teilnehmer haben dabei sogar Symptome entwickelt, obwohl sie keine Arznei eingenommen hatten; und einige wenige, sensible Teilnehmer hatten schon im Vorfeld, d. h. bevor die Arznei ausgeteilt wurde, Erlebnisse und Träume, die eindeutig dadurch dem Arzneimittel zugeordnet werden konnten, dass andere „Prüfer“ ähnliche Träume und Erlebnisse hatten. Es wurde also für uns deutlich, dass wir uns alle immer in einem kollektiven Feld bewegen, indem auch Arzneimittelbegegnungen anderer unabhängig davon, ob sie zu „Prüfungszwecken“ oder zum Zwecke der Heilung stattfinden, auf die Gesamtheit wirken.

Um eine Erkrankung des kollektiven Feldes erkennen zu können, bedarf es einer gesteigerten Wahrnehmung des Homöopathen. Dabei muss er unterscheiden können, ob sich diese Erkrankung auf ein individuelles (chronische Ebene) oder um ein kollektiv bedingtes „Problem“ handelt. Ein kollektives „Problem“ zeichnet sich dadurch aus, dass der Erkrankte an umfassenden Prozessen teilnimmt, die z. B. seine Familiengeschichte, die Gesellschaftsstruktur, in der er lebt, religiöse Bindungen, in die er eingebettet ist oder anderes betreffen. So kann man z. B. sagen, dass jeder Deutsche am lycopodischen „Miasma“ durch die Prinzipien des Rechtsstaates teilhat. Wir finden demzufolge auch weitaus mehr lycopodisch kranke Menschen in Deutschland als z. B. in Indien (gut zu erkennen an der Häufigkeit der Verschreibungen). Natürlich können sich auch kollektive „Probleme“ verschieben oder lösen. Wichtig ist zu wissen, dass jeder, der z. B. eine lycopodische Hochpotenz einnimmt, an dem kollektiven Geschehen und auch an der Heilung des Kollektiven intensiveren Anteil hat – ob er es wahrnimmt oder nicht, spielt keine Rolle- als jemand, der Lycopodium nicht eingenommen hat. Denn die Arznei mit ihren passiven kollektiven Anteilen (Farnpflanze im Wald) wird nun dadurch aktiv, dass sie mit einem weiteren Träger des Kollektiven in Beziehung tritt. Religiöses Verständnis und Empfinden ist ein weiterer elementarer Inhalt der miasmatischen Ebene.

Bei der Betrachtung dieser miasmatisch-kollektiven Ebene ist es wichtig zu verstehen, dass es nicht in erster Linie darum geht, ob wir als Homöopathen auch kollektive Heilungen vollziehen können – das liegt wohl noch in weiterer Ferne – sondern dass wir uns unseres Wirkens und unseres Umgangs mit den Hochpotenzen bewusst werden und unsere Wahrnehmungsorgane erweitern lernen. Denn für die Homöopathie gilt, was für alle Heilweisen gilt: Wer helfen kann, der kann auch schaden.
Ob sich die Sichtweise dieses „miasmatischen“ Verständnisses als wahr herausstellt, wird erst in der Zukunft nach einem praktischen Umgang mit ihr bewiesen werden können. Bis dahin gehört sie mit zur Grundlage der prozessorientierten Homöopathie.



Andreas Krüger, Heilpraktiker
Leibnizstr. 46, 10629 Berlin

Hans-Jürgen Achtzehn, Heilpraktiker
Mommsenstr. 55, 10629 Berlin


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